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Drei Menschen, drei Schicksale

Gefangen in der Abhängigkeitsspirale

 

„Weil mein Vater mich vergewaltigte, verfiel ich der Drogensucht.“


Die Gründe können vielfältig sein, warum ein Mensch in die Sucht abrutscht, aber dieses Schicksal macht einfach nur sprachlos. Bereits mit 10 Jahren konsumierte die Magdeburgerin Heidi Tüllmann (35) das erste Mal Gras, da sie die sexuellen Handlungen ihres Vaters nicht verarbeiten konnte. Auch wenn dieser Fall besonders emotional ist: Er ist kein Einzelfall.


Gegenüber dem Magazin SUCHTPOTENZIAL erklären neben Heidi Tüllmann noch die beiden Magdeburgerinnen Katy Wilke (42) und Kathrin Supke (29), wie sie in die Abhängigkeitsspirale gerutscht sind, wie viel sie von welchem Genussmittel täglich konsumierten und warum auch der Nicht-Konsum zur Sucht führen und äußerst gefährlich werden kann.

Katy Wilke (42) „Essenssituation lösten bei mir heftige Panikattacken aus.“


Da Katy Wilke in der Vergangenheit sehr viel Stress hatte und andere Probleme nicht verarbeiten konnte, begann sie, nach und nach auf das Essen zu verzichten. Im Normalfall freut man sich nach einem harten Arbeitstag auf ein gutes und ausgiebiges Abendessen. Bei Wilke löste aber genau dieser Gedanke große Angstzustände aus. Sie erklärt, dass vor allem das Mobbing auf der Arbeit und die Streitigkeiten in ihrer damaligen Ehe dazu führten, dass sie immer weiter in die Problemspirale rutschte. Katy Wilke zu SUCHTPOTENZIAL:

„Ich habe dann zwar immer so getan, als ob alles gut ist, aber ich konnte einfach nichts mehr essen, es war eine Katastrophe. Als ich dann über den Hunger war und Magenkrämpfe bekommen habe, merkte ich, dass etwas nicht stimmt.“ Irgendwann sei ihr schon bei dem Geruch nach Essen der Appetit vergangen. „Ich hätte mich übergeben können“, erzählt Wilke.


„Ich habe mir oft Ausreden einfallen lassen,

um niemanden mehr treffen zu müssen.“


Im Verlauf bekam sie sogar Panikattacken, wenn sie nur im Ansatz an eine Mahlzeit gedacht habe. Dabei spielte es für sie mit der Zeit keine Rolle mehr, ob sie sich in einem Restaurant, oder am heimischen Esszimmertisch befand. Zwischenzeitlich ging es ihr so schlecht, dass sie sogar kurz vor dem Umkippen stand und immer mehr abnahm. Ein Rückzug aus dem sozialen Umfeld war die Folge. „Das war keine einfache Zeit für mich, denn viele meiner Freundschaften sind in die Brüche gegangen. Ich habe mir oft Ausreden einfallen lassen, um niemanden mehr treffen zu müssen“, berichtet die freie Fotografin. Insgesamt ein Jahr hatte sie Probleme mit dem Essen, bis sie sich selbst eingestehen konnte, dass sie Hilfe benötigt. Da sie in keine Klinik wollte, hat sie sich dann selbst Hilfe gesucht, um ihr gestörtes Essverhalten in Angriff zu nehmen: mit Erfolg. Sie begab sich in eine Therapie, wo sie mit anderen Suchtpatienten zusammenkam.


„Trotz meines guten Zustands muss ich mir täglich bewusst machen,

dass ich die Krankheit habe und ein Leben lang damit kämpfen werde.

Ich beschreibe es wie einen kleinen Drachen im Körper.

Still am Tisch sitzen, kann ich bis heute nicht.“


„Der Gang in die Klinik war zu Beginn schwierig. Ich habe nur gedacht, hoffentlich sieht mich hier niemand. Besonders hart war für mich, dass ich den Spiegel meiner eigenen Probleme vorgehalten bekommen habe. Ich merkte aber mit der Zeit, dass ich mit meinen Problemen nicht allein bin.“ In der ambulanten Therapie haben die Betroffenen Strukturen an die Hand bekommen, um ihr Leben wieder selbstständig meistern zu können. Von kleineren Aufgaben bis hin zu Ausflügen sei alles dabei gewesen und das Essen stand dabei nicht im Fokus. „Ich habe dann angefangen, kleine Portionen zu essen, um mich langsam wieder an das Essen zu gewöhnen. Das waren zu Beginn acht Mahlzeiten am Tag, die ich mir zubereitete. Als ich dann die ersten kleinen Portionen geschafft habe, war das für mich eine Sensation und habe mich feiern lassen“, berichtet sie heute stolz. Dadurch hat sich Wilkes Situation Schritt für Schritt gebessert. Es hat allerdings lange gedauert, bis sie wieder essen gehen konnte. Zu Beginn brauchte sie eine Ankündigung, doch auch das funktioniert heute wieder ohne Probleme. Bis heute achtet sie darauf, dass sie sich genügend Zeit beim Essen lässt.


Viele Jahre später hatte sie dann noch einmal einen Ehemann, welcher Alkoholabhängig war, wodurch sie wieder mit dem Problem konfrontiert wurde. Bevor sie aber wieder in die Essstörung abrutschte, zog sie die Notbremse und trennte sich nach drei Entzugsversuchen endgültig von ihm.


„Hätte ich die Klinik nicht gehabt,

wäre ich mit meinen Problemen untergegangen."


Nach einer schweren Zeit, genießt Katy Wilke ihre Freiheit in vollen Zügen und beschäftigt sich nur noch mit Personen, die ihr Kraft geben.

Ihr Fazit: „Meiner Therapie bin ich zum großen Dank verpflichtet. Hätte sich die Klinik nicht gehabt, wäre ich mit meinen Problemen untergegangen.“ Mittlerweile hat sie sich von 45 auf 60 Kilo hochgearbeitet und kann wieder Sachen unternehmen, die ihr Spaß machen.

Frau Dr. med. Adak Pirmorady (42), Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie erklärt, dass nicht nur der krankhafte Verzicht auf eine Sucht hindeuten kann. Auch der übermäßige Konsum kann ein Warnsignal sein. „Wenn es zu einer Regelmäßigkeit im Konsum, einem sozialen Rückzug sowie Einschränkungen im Privat- und Arbeitsleben kommt, kann dies bereits die Folge einer Sucht sein“. Auch ein vermehrter Gedanke an die Suchtmittel und die Unfähigkeit verzichten zu können, sind als Alarmzeichen zu werten. Die Ärztin rät, sich entweder an eine Suchtberatungsstelle zu wenden oder das Gespräch mit einer spezialisierten Ambulanz oder dem:r Hausärz:tin zu suchen.


Heidi Tüllmann (35) „Mit 10 konsumierte ich das erste Mal Gras.“


Heidi ist durch Probleme in der Vergangenheit ebenfalls der Sucht verfallen. Bei ihr war es eben nicht der Verzicht, sondern das beschriebene Gegenteil. Sie konsumierte Alkohol und Drogen im Übermaß. „Mein Vater hat mich als ich zehn Jahre war zur Prostitution gezwungen und vergewaltigte mich. Um das Grausame verarbeiten zu können, verfiel ich zunächst der Drogensucht. In der schlimmsten Zeit habe ich dreimal täglich Gras konsumiert“, erzählt sie gegenüber unserem Magazin. Sie konnte in dem Alter keineswegs realisieren, was mit ihr passiert.


„Während des Entzugs habe ich überall weiße Mäuse gesehen

und habe mir darüber Gedanken gemacht,

wie ich an neue Genussmittel komme.“


„Ich konnte mich damals weder meinen Brüdern noch meiner Mutter anvertrauen. Sie haben zwar gemerkt, dass ich mich verändert habe, doch den Grund hat keiner herausbekommen.“ Insgesamt vergewaltigte sie ihr Vater über drei Jahre dreimal im Monat. Sie habe sich sogar versucht zu wehren, doch dies habe nichts gebracht. Durch die Drogen konnte sie für ein paar Stunden den Albtraum verdrängen. Heute sagt sie, dass sie froh sei, dass ihr Vater nicht mehr lebt. Insgesamt habe sie sich sechs Jahre in der Drogenspirale befunden. Ihre Freunde wussten schon lange, dass etwas nicht stimmt:


„Mit 16 Jahren war ich bereit, mit ihnen über die furchtbaren Geschehnisse zu sprechen. Meine Freunde haben sich Sorgen gemacht, da ich bereits am ganzen Körper gezittert habe. Es fiel mir sehr schwer, mich da jemanden anzuvertrauen.“ Im Nachhinein bereut sie den mutigen Schritt nicht. Durch ihre Offenheit und das offene Ohr ihrer Freunde konnte sie sich aus der Drogensucht befreien.


„Es war ein nasskalter Entzug und sehr harte Wochen für mich. Während des Entzugs habe ich überall weiße Mäuse gesehen und habe mir darüber Gedanken gemacht, wie ich an neue Genussmittel komme. Doch meine Freunde haben mich von einem weiteren Konsum abgehalten und mich so manche Nacht zurück ins Bett geschubst“, berichtet sie heute. Ihre Freunde haben dafür gesorgt, dass sie in einen Verein geht, der sich auf sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kindern spezialisiert hat, wobei sie sich das erste Mal ein Stück öffnen konnte.


Nachdem sie die erste Sucht besiegt hatte, zog sie mit 18 Jahren in ihre erste eigene Wohnung. Statt einer eigenen Zukunft folgte der Rückschlag. Da sie die Situation des Alleinseins überforderte, verfiel sie der Alkoholsucht. „Ich habe begonnen, ein Bier nach dem anderen zu trinken und rutschte fließend in die Sucht. Zwar habe ich meine Ausbildung zur Garten- und Landschaftsgärtnerin noch zu Ende gemacht, doch die Berufsschullehrerin hat gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Aus einem Bier wurden jeden Abend sechs Flaschen Bier und eine Flasche Korn.“


Ihre Berufsschullehrerin hat sie dann bei dem Verein „Wildwasser“ angemeldet, ebenfalls spezialisiert auf Menschen, die sexuelle Gewalt erlebt haben. Insgesamt war sie fast fünf Jahre in Therapie, was ihr sehr geholfen hat. Ihren Alkoholkonsum hat sie schrittweise reduziert, bis sie sich nach einem harten Kampf aus der Sucht befreien konnte.

Auch Pirmorady erklärt, dass es wichtig ist, sich so früh wie möglich einer Person anzuvertrauen: „Wichtig ist, dass man als Betroffene:r das Problem nicht im Verborgenen hält, sondern sich eine Vertrauensperson sucht, die einem bei der Suche nach professioneller Hilfe unterstützt.“


„Ich habe schon manchmal noch das Bedürfnis einen Joint zu rauchen

oder auch ein Bier zu trinken, mein Ego ist aber stärker.“


Von 2009 bis 2015 hat Heidi Tüllmann dann in einer Werkstatt für Menschen mit Beeinträchtigungen gearbeitet, um wieder den Weg zurück ins normale Leben zu finden. Trotz des Erfolges holte sie ihre Vergangenheit immer wieder ein und die junge Frau war erneut an einem seelischen Tiefpunkt angelangt, aus dem sie sich ebenfalls allein befreien konnte. Seit 2016 arbeitet sie nun als Zustellerin.


Tüllmann ist sich bewusst, dass es trotz allem zu Rückfällen kommen kann: „Ich habe schon manchmal noch das Bedürfnis einen Joint zu rauchen oder auch ein Bier zu trinken, mein Ego ist aber stärker.“ Um sich von den Gedanken der Sucht abzulenken, liest sie ab und zu ein Buch oder schaut sich Beispiele an, wie sie durch eine Sucht nicht enden möchte, vor allem jetzt, in der dunklen Jahreszeit.


Der Weg aus der Sucht, war für Heidi Tüllmann (35) steinig. Umso mehr freut sie sich, dass sie nun wieder positiv in die Zukunft schauen kann.


Kathrin Supke (29) „Bei weiterem Konsum werden Sie ihren 21. Geburtstag nicht erleben.“


Wie schlimm eine Alkoholsucht werden kann, erklärt Kathrin Supke. Ihre Oma war bereits von einer Sucht betroffen und im familiären Umfeld kam es regelmäßig zu Gewalt. „Um meine Gefühle zu betäuben, habe ich mich irgendwann regelmäßig zur Besinnungslosigkeit betrunken, das erste Mal mit 14 Jahren. Ich habe mir jeden Tag eineinhalb Liter Cola mit einer Flasche Wodka gemischt.“ Oft begann sich die junge Frau schon im Unterricht zu betrinken und weil sie den Wodka mit der Cola mischte, fiel es den Lehrenden nicht auf. Der übermäßige Konsum hatte Folgen: Mit 19 Jahren hat sich Kathrin das erste Mal zur Entgiftung begeben und die Worte des Mediziners waren deutlich. „Wenn Sie weiter in diesem Ausmaß konsumieren, werden Sie Ihren 21. Geburtstag nicht erleben“. Das war das erste Mal, dass Supke realisiert hat, dass sie sich durch den Konsum von Alkohol und später auch Drogen vieles kaputt gemacht hat.


Mit der Einsicht war der Horror für die junge Frau aber lange nicht vorbei, im Gegenteil. Durch die folgenden Entgiftungen konnte sie in der Nacht immer schlechter schlafen, woraufhin sie sich von ihrem Arzt ein Medikament gegen Angst und Panik verschreiben ließ. Über ein halbes Jahr verteilt habe sie die unterschiedlichsten Medikamente konsumiert, um ihre Probleme in den Griff zu bekommen. Die Folge war, dass sie erneut in die Entgiftung musste. Im Jahr 2017 habe sie sich dann entschlossen, eine Entwöhnung zu machen. Zwar hat sie diese durchgestanden, aber zwischenzeitlich kam es auch hier immer wieder zu „Krisenmomenten“. „Ich musste während der Entwöhnung mehrmals verlegt werden, weil es mir so schlecht ging. Im Mai 2018 war ich an einem Tiefpunkt und hatte Selbstmordgedanken. Diese Gedanken habe ich in schweren Momenten bis heute“.

Da die Oma von Kathrin eine Spielhalle besitzt, ging sie oft mit ihren Freunden dorthin. Beim zweiten Mal hat sie 32 Euro gewonnen, was sie als „sehr faszinierend“ empfand. „Da ich nicht nur die 32 Euro gewonnen habe, sondern mehrere Tausend, war ich mit der Zeit in so einem Rausch, dass ich nicht mehr aufhören konnte.“ Die Spielsucht begann 2013 und ging bis 2020. Dabei spricht sie von einem schleichenden Entwicklungsprozess. Zu Beginn sei sie nur einmal die Woche spielen gegangen, doch das steigerte sich mit der Zeit bis zu einem täglichen Besuch in der Spielhalle.


„Ich suchte mit der Zeit nach Ausreden, um wieder spielen zu gehen. Ich habe mich sogar ein halbes Jahr von meinem Hausarzt krankschreiben lassen, um meiner Sucht nachzugehen. Man verliert irgendwann das Zeitgefühl, dass es in der Spielhalle keine Uhren gibt und es dunkel ist. Man sieht nur noch Gewinn oder Verlust.“ Selbst als die ersten Entgiftungen und die Therapie überwunden hatte, verfiel sie immer wieder der Sucht, nach dem Motto „einmal geht es noch“. Als sie bereits im Wohnheim lebte, ist sie regelmäßig wieder in die Spielhalle gegangen, um das Taschengeld aufzubessern. Doch aus dem gelegentlichen Spielen wurde mit der Zeit wieder eine Regelmäßigkeit. „Insgesamt habe ich durch diese Sucht 27 000 Euro verloren, bei meinem letzten Besuch allein 400 Euro. Wegen meiner Geldnot habe ich angefangen zu stehlen und Pfandflaschen zu sammeln, um irgendwie über die Runden zu kommen.“ Ab diesem Moment merkte sie, dass sich dringend etwas ändern muss. Daraufhin hat sie sich in allen Spielhallen von Magdeburg sperren lassen.


Auch heute geht sie noch einmal in der Woche zur Therapie und lebt in einem betreuten Wohnen, um nicht wieder rückfällig zu werden. In ihrer Freizeit macht sie viel mit Freunden und achtet darauf, dass sie nicht zu oft allein ist. „Ich bin jetzt nun clean seit vier Jahren. Das war hammerhart, da ich ständig mit Rückfällen konfrontiert wurde. Man muss schauen, dass man sich trotz der Krisen nicht hängen lässt. Dass Menschen für mich da waren, als es mir schlecht ging, war ein Schlüsselmoment für mich. Als ich ein halbes Jahr in der Therapie ohne Smartphone und ohne Handy saß, war für mich die beste Zeit.“ Für die Zukunft hat die 29-Jährige große Pläne. Sie möchte gerne noch einmal zur Schule gehen, um ihren Schulabschluss nachzuholen. Nach erfolgreichem Abschluss soll eine Ausbildung folgen. Das Wichtigste für sie ist, dass sie sich nicht mehr von der Alkohol- oder Spielsucht beeinflussen lässt.


Auch wenn sich alle drei Frauen Schritt für Schritt aus der Sucht befreien konnten, macht Pimorady deutlich, dass es sich bei dem Weg aus der Sucht um einen langwierigen Prozess handelt. „Man muss sich klarmachen, dass das Problem nicht von heute auf morgen gelöst ist. Es handelt sich um einen Prozess, der mit der Motivationsphase beginnt, gefolgt von einer Entgiftung, Entwöhnung und der Nachsorge. Vor allem nach dem Entzug ist es wichtig, dass man über seine Probleme spricht und physiotherapeutisch arbeitet.“ Freunde und Familie können zwar eine Unterstützung sein, doch eine komplizierte Familiendynamik könne auch hinderlich wirken, so die Expertin.



| von Tom Zinram und Patrizia Pickert

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