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"Ich denke, deswegen bin ich krank"

Aktualisiert: 22. Feb. 2022

Histrionie, oder wenn der Verstand zur Waffe gegen einen selbst wird.


Menschen, Mechanismen, mephistophelische Magnaten, megalomanischer Machiavellismus, mutierter Materialismus, Memento Mori – mit dem Buchstaben „M“ beginnende Metabeschreibungen unsereiner fallen zumeist weniger dichterisch aus. Unser Protagonist dient in diesem Fall als perfektes Beispiel, beschreibt ihn doch das Motiv des „moppeligen Misanthropen“ am besten.

Liebe Leser:innen, ich muss gestehen, dass auch ich mir den Prozess anders vorgestellt hatte: Vor meinem inneren Auge sah ich mich bereits schwarzen Kaffee schlürfend in einem Diner sitzen, an meiner Seite Block und Stift, während mein treuer Trenchcoat mich vor Wind und Wetter schützt. Der folgende Text erscheint jedoch klischeebefreit im 21. Jahrhundert und beschäftigt sich im Zuge der Suchtthematik unseres Magazins mit einem unorthodoxen Ansatz. Der Begriff der Histrionie beschreibt einen psychologischen Befund, den man als Aufmerksamkeits- oder Geltungssucht beschreiben könnte. Die Idee dieser Art von Diagnose entlockte meinem per Knopfdruck und Mausklick zu mir gestoßenen Gesprächspartner nur ein durch ein Kopfschütteln begleitetes Lachen:


„Tut mir leid, aber ich bin weniger spannend. Leider bin ich zu gesund für eine Persönlichkeitsstörung.“


Eine ironische Entschuldigung, aber ich bitte ihn, mehr zu erzählen. Die Idee einer ärztlichen Diagnose bringt ihn zum Lachen, weil er selbst der Überzeugung ist, dass es die Dinge simplifiziere. Wenn er unnormal ist, dann gibt es einen Grund. Sein Drang nach Anerkennung basiert nicht auf einem Münzwurf Gottes und seine Dämonen sind uns als Außenstehende vielleicht bekannter als uns eigentlich lieb ist.

Was folgt, erscheint wie eine normale Kindheit, wäre da nicht ein Elternpaar aus Kasachstan, welches nach dem Fall der Berliner Mauer mit zwei Koffern in Deutschland angekommen war. Er selbst kommt sieben Jahre zu spät auf die Welt, um verstehen zu können, warum die Augen seines Vaters glitzern, wenn er über seine Heimat spricht. Bilder aus einem anderen Leben, Geschichten von Menschen, denen er zum Leidwesen seiner Familie niemals begegnen wird – er kann nur teilnahmelos zuhören. Seine Geburtsurkunde macht ihn deutsch, er atmet niemals Steppenluft oder hütet irgendein Tier, kann nicht einmal Russisch und dennoch ruft eines Abends seine Grundschullehrerin voller Verwunderung an und fragt bei seiner Mutter: „Warum er denn so gut lesen kann, immerhin sind sie doch Russen?“ Zum ersten Mal in seinem Leben fühlt er sich so, als wäre etwas verkehrt mit ihm, als wäre sein Bestes nicht gut genug.


Völlig trocken erzählt mein Gesprächspartner, dass seine Mutter ihm als Kind immer eingetrichtert habe, dass er lebe, um sich im hohen Alter um seine Eltern zu kümmern, dass er lebe, um der Familie zu dienen. Laut seiner „Mamushka“, wie er sie nennt, natürlich nur ein Scherz, der jedoch einen ideologischen Konflikt offenbart. Denn im Gegensatz dazu wird ihm von seinen Lehrern suggeriert, er sei eine wundervolle Schneeflocke, die eine Bereicherung für eine Welt darstellt, die ihm zu Füßen liegt, wenn er nur nach ihr greift.

Mit einem Lächeln erzählt er heute davon, dass der Kommentar seiner Mutter mittlerweile keine große Sache mehr ist, doch offenbaren seine Erzählungen zugleich, dass er seit seiner Geburt ein Kind zweier verschiedener Welten war, gespalten zwischen einem Versprechen der westlichen Welt, der Prophezeiung persönlicher Großartigkeit, und der kollektivistischen, familiären Verpflichtung, ein Vertrag, den er scheinbar mit dem Schnitt seiner Nabelschnur eingegangen war.


Vielleicht war es keine große Sache mehr, weil die Tränen mittlerweile getrocknet sind, weil er die warmen Handabdrücke in seinem Gesicht nicht mehr spürt, weil er an diversen Familientherapien teilgenommen hat und mittlerweile wieder mit seinen Eltern koexistieren kann. Heile Welt, wenn ich mich nur nicht an ein Gespräch erinnern würde, in welchem er sich mir in Hinblick auf seine Frustration geöffnet hatte. Auf einer viel zu kalten Parkbank hat er seinen Kollegen dabei zugesehen, wie sie viel zu billiges Dosenbier trinken. Einer von ihnen ist auf die irrsinnige Idee gekommen, ihm ein Kompliment zu machen: Abgenommen habe er. Seine Wenigkeit nickt lächelnd, seine innere Stimme erinnert ihn jedoch daran, dass fünf verlorene Kilo im Monat zu wenig sind.

Während unseres Gespräches erinnere ich mich an ein afrikanisches Sprichwort, welches besagt, dass das Kind, welches nicht von seinem Dorf akzeptiert wird, dieses später anzünden wird, um die Wärme zu spüren. Aus reiner Neugierde heraus fragte ich ihn danach, denn wenn seine Wenigkeit nicht sein Elternhaus entzünden will, was dann? Aufgrund unserer vorherigen Gespräche manifestieren sich mehrere Möglichkeiten in meinem Kopf. Vielleicht die Mode-Industrie, die ihm sein ganzes Leben lang irgendein unerreichbares Schönheitsideal vorgelebt hat? Die Body-Positivity-Crowd, die ihm klar machen will, dass er perfekt war, obgleich er bei jedem Treppengang seinem Schöpfer begegnet?


„Früher, da habe ich anderen Leuten oft die Schuld gegeben. Aber mittlerweile nicht mehr. Jetzt weiß ich, dass nur ich die Verantwortung für mein Leben trage.“ Zum ersten Mal in diesem Gespräch wirkt mein Gesprächspartner betroffen, schaut nicht direkt in die Kamera und scheint darüber nachzudenken, ob er wirklich sprechen möchte.


„Weißt du, am Anfang meines Studiums bin mal eine Woche nicht erschienen, weil ich ganz alleine in einer neuen Stadt war und meine Depressionen härter reingekickt haben. Die Leute wussten das nicht und hatten mich danach irgendwie als jemanden abgestempelt, der faul ist, keine Lust aufs Studium hat.“


Der ansonsten so selbstsicher wirkende Mann scheint verunsichert, aber spricht noch immer. „Einige Monate später haben wir dann einen idiotischen Test gemacht, um herauszufinden, in welches Hogwartshaus die Leute gehören würden. Die anderen waren überrascht darüber, dass ich in Ravenclaw, dem Haus der Intellektuellen, gelandet bin. Passte laut ihnen nicht zu mir.“


Er erzählt von diversen Beispielen, erinnert sich an die Male, als der Platz im vollen Bus neben ihm nicht besetzt wird, weil die Leute lieber stehen, als neben dem „Specki“ zu sitzen. Oder dass er sich so fühlt als entspreche er irgendeinem Stereotypen, sobald man ihn mit etwas Essbarem in den Händen sieht. Scheinbare Kleinigkeiten, die ihn jedoch noch Jahre später beschäftigen, mentale Mückenstiche, die niemals damit aufhören, unangenehm zu jucken.

Der Begriff der „kognitiven Dissonanz“ beschreibt in der Sozialpsychologie den Zustand, bei dem im Gehirn einer Person nicht miteinander vereinbare Wahrnehmungen existieren, die zu einem unangenehmen Gefühl führen. Gerade erzählt eine Person von sich, die in jeder Frage potentielle Kritik sieht. Erkundigt man sich nach seinem Wohlergehen, dann weil er gerade wie eine Leiche aussieht. Ist man überrascht über seinen Notenschnitt, dann zweifelt man damit automatisch an seiner Intelligenz.


„Manchmal fühlt es sich so an, als würde ich nicht einmal eine faire Chance bekommen.“


Vielleicht hat er nicht Unrecht, doch wie bekommt man eine faire Chance, wenn man überzeugt davon ist, dass niemand sie einem bieten will?


Ich spreche mit einem Mann, der mit seiner Vergangenheit abschließen möchte, und dennoch steckt in diesem Mann, der so viel überwunden hat, irgendwo noch ein Kind, welches sich bei jeglicher realen oder imaginären Form von Kritik in die Situation zurückversetzt fühlt, als seine Grundschullehrerin ihm das Gefühl gegeben hat, er wäre gut genug. Vor meiner Nase spielt sich ein Hochseilakt ab, denn auch wenn mein Gesprächspartner mir die Wahrheit erzählt, wenn er wirklich abnehmen will, um ein gesundes Leben zu führen, dann will er zugleich auch, dass die gottverdammten, richtenden Blicke endlich aufhören. Er will die Anerkennung anderer, weil sich positive Zustimmung gut anfühlt, braucht sie jedoch zugleich, da er sich selbsteinredet, dass er niemals gut genug sein kann.


Und mit dieser wohl etwas bitteren Note endet unser Gespräch, man verabschiedet sich voneinander und der Rechner wird heruntergefahren. Gedankenlos gehe ich in mein Badezimmer und der Blick in den Spiegel offenbart: ein Monster! Braune Augen. Schwarze Haare. Durchschnittlich groß. Unrasiert. Trägt gerade den langweiligsten aller grauen Hoodies. Siehe da, an seinem linken Mundwinkel hängt eine Brotkrume. Hat sich dort eingenistet und während des Interviews einfach dort gewohnt. Die Hartnäckigkeit des Krümels irritiert mich so sehr, dass ich fast vergessen hätte zu erwähnen, dass der Spiegel auch meinen Interviewpartner offenbart. Komisch ihn so schnellwiederzusehen.



| von Martin Pastian

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