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Zu viel zum glücklich sein, aber zu wenig zum Sterben

„Kein Frühstück. Kein Mittag. Abendessen 638 kcal. Ziel für morgen, nicht so viel wie heute essen.“


Es ist 22:05 Uhr an einem Dienstagabend als diese Nachricht auf meinem Handybildschirm aufploppt. Sie ist von einer jungen Frau aus einer Pro-Ana-Gruppe.


Mit Ana ist Anorexia Nervosa gemeint, also Magersucht, und mit Pro die krankhafte Liebe zur Sucht. In den Pro-Ana-Communitys verherrlichen die Betroffenen ihre Essstörung, geben sich Abnehmtipps und motivieren sich gegenseitig, für ihr gemeinsames Ziel zu kämpfen: Tiefer in die Magersucht hungern, um sich endlich dünn zu fühlen.


Foto: Leandra Teschner

Ich bekomme diese Nachricht, weil ich seit einer Woche Teil einer solchen Pro-Ana-Community bin. Mitglied einer Whatsapp-Gruppe, in der Mädchen und junge Frauen ihren Körper verabscheuen, mit aller Macht abnehmen wollen und denen dazu alle Mittel und Wege recht sind.


Teil dieser Community zu werden ist nicht schwer. Nach ein paar Minuten und wenigen Klicks finde ich ein Forum, in dem man sich durch diverse Pro-Ana-Gruppen lesen kann. Wie auf einem Basar prahlt jede dieser Gruppen mit dem Versprechen abzunehmen und dass genau diese Community dafür die beste Unterstützung sei. Richtlinien, feste Regeln, Disziplin und Geheimhaltung sind oberste Priorität jeder Gruppe und der Wille absolut alles für Ana zu tun.


Nachdem ich mir eine Gruppe rausgesucht habe, bekomme ich einen Einladungslink zu einer „Vorgruppe“, die dann entscheidet, ob ich in die sogenannte „Hauptgruppe“ komme. Ich muss Informationen über mein Alter, Größe, Gewicht mit Tiefst- und Höchstgewicht angeben, den dazugehörigen Body-Maß-Index (BMI) errechnen und was mein Wunschgewicht wäre. Ich erfülle die Kriterien und bin seitdem Teil einer Welt, die mir wie ein kalter Schauer über den Rücken läuft.



Das Gruppenbild auf Whatsapp stellt ein junges, von der Statur sehr zierliches und zerbrechliches Mädchen dar. Ein Mädchen, das Hotpants trägt, welche auf ihren herausstehenden Hüftknochen hängen, und dazu ein

bauchfreies Trägeroberteil, wodurch sich die hervorstehenden Rippen abzeichnen, welche ich einzeln zählen kann. Die Träger des Tops sind so schmal geschnitten, dass jeder Knochen im Schulterbereich zu erkennen ist. Als ich meinen Blick über die Gruppeninfo schweifen lasse, stockt mir der Atem. Dick und in Großbuchstaben geschrieben, steht das Wort REGELN. Regeln zum Abnehmen, Regeln, um weiterhin ein Mitglied dieser Gruppe bleiben zu dürfen. Genaue Kalorienvorgaben sind einzuhalten, das heißt keiner darf mehr als 1000 Kalorien am Tag zu sich nehmen. Zum Vergleich: Eine gesunde Frau benötigt im Durchschnitt circa 1900 Kalorien am Tag und bereits ein normales Mittagessen, bestehend aus Würstchen, Sauerkraut und Kartoffelbrei hat schon 765 Kalorien. Neben diesen strengen Diätregeln sollten die zu sich genommenen Kalorien auch am besten direkt mit Sport verbrannt oder erbrochen werden. Einmal die Woche muss jede ein Waage-Bild in die Gruppe schicken, damit ein Erfolg gefeiert oder ein Versagen bestraft werden kann. Bestrafungen sind in diesem Fall tagelanges Fasten.


Der Höhepunkt ist die monatliche BMI-Challenge, in der das Mädchen mit dem niedrigsten BMI einen Monat lang ein Bild von sich als Gruppenbild reinstellen darf, um sich zu ehren und die anderen Pro-Anas weiter beim Abnehmen zu motivieren.


Ich komme mir in dieser Pro-Ana-Gruppe wie eine Verräterin vor, denn ich schleuse mich schließlich nur für Recherchezwecke bei ihnen ein, um mehr über solche krankhaften Abnehmgruppen zu erfahren und um die Betroffenen besser verstehen zu können. Aber in diesen intimen Communitys teilen und erzählen sich die jungen Frauen alles, neben dem täglichen Morgen- und Abendprotokoll der gegessenen Kalorienangaben. Sie teilen ihre Wünsche, Ängste und Probleme miteinander und fühlen sich in diesem Umfeld sicher und verstanden, denn außerhalb dieses Chats begegnet ihnen kaum einer mit Verständnis. Die Mädchen und jungen Frauen erzählen ihre Magersuchtgeschichten, welche bei den meisten mit Depressionen und selbstzerstörerischem Verhalten einhergehen. Nachrichten wie „Mein ganzer Arm ist voller Narben“ oder „Ich hatte schon des Öfteren Selbstmordgedanken“ sind in diesen Gruppen trauriger Alltag, der mich die ersten Tage nicht loslässt.


Neben diesen erschreckenden Offenbarungen nehmen die Betroffenen sich gegenseitig mit in ihr Leben, in ihren Alltag und berichten von ihren Versuchen, die wenigen Kalorien am Tag mit Sportübungen zu verbrennen oder noch zu erbrechen. Eine anonyme Nutzerin schreibt: „Ich habe mich 4x übergeben, ist zum Glück noch viel rausgekommen, aber sicher nicht alles.“ Die Antworten auf eine solche, für mich verstörende, Nachricht gleichen einer Lobeshymne und sind geprägt von Neid und Stolz. Ein paar der Mädchen drücken ihre Bewunderung aus, andere befürworten dieses Verhalten.


Manche Pro-Anas senden regelmäßig Bilder von sich in die Gruppe oder von sogenannten Thinspiration-Websites. Seiten, die abgemagerte Frauen zeigen und weitere Motivationssprüche wie „hungry to bed, hungry to rise, makes a girl a smaller size“ stehen an der Tagesordnung.


Die tiefe Traurigkeit der Mädchen ist an manchen Tagen fast mit bloßen Händen greifbar. Es sind Nachrichten wie „Die Essstörung ist das Einzige, was mir noch Freude bereitet“ oder „Mein größter Wunsch ist es, in den Spiegel schauen zu können, ohne mich hässlich zu finden.“


„Die Betroffenen leiden fast immer an einer verzerrten Selbstwahrnehmung ihres Körpers, dies bedinge sich mit der Magersucht“, schildert Paula. Sie ist 33 Jahre alt und Mutter einer dreijährigen Tochter. Die Magersucht war über 15 Jahre lang ein Teil von ihr.

Sie zählt zu den 50 bis 75 Frauen von 100 000, die jedes Jahr in Deutschland an Magersucht erkranken, Tendenz steigend.

Angefangen habe alles mit einer Diät, da ist Paula erst elf. Sie sieht die schlanken Sängerinnen der 90er im Fernsehen und will auch so einen flachen Bauch haben. Mit 14 Jahren verliert sie ihre Mutter und somit auch jeglichen Halt und Kontrolle in ihrem Leben. Mit diesem Schicksalsschlag beginnt sie, ihr Essen zu überwachen, um so die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen. Sie fühlt sich machtvoll mit dieser scheinbaren Überwachung.

Und es dauert auch nicht lange, bis Paula die ersten Komplimente zu ihrem Gewichtsverlust bekommt. Komplimente, die sie bestärken in dem, was sie tut. Doch keiner ihrer Freunde oder Verwandten sieht genauer hin. Sie beichtet mir, dass sie sich in einer akuten Phase der Magersucht ein halbes Jahr lang nur von einem Glas Milch und einem Glas Orangensaft am Tag ernährte.

„Ich fühlte mich am schönsten, wenn es mir scheiße ging“, erklärt sie, denn ihre Magersucht kam in Phasen. Immer, wenn etwas in ihrem Leben kriselte oder ein Problem auftrat, litt sie an einem Rückfall. Oft führten diese Rückfälle zu schlimmeren Phasen der Magersucht und sie erbricht ab ihrem 20. Lebensjahr regelmäßig ihr Essen. Jedoch hat sie ihre dunkelsten Stunden als die besten empfunden. Paula erzählt mir, wie erhaben sie sich dann immer gefühlt habe, wenn sie schaffte, nichts zu essen, während die anderen alle schwach waren und aßen.


Sie verdeutlicht mir, dass ihre Magersucht vielmehr ein Schrei nach Hilfe war. Denn die Magersucht habe nur die Leere und Traurigkeit in ihrem Innern zum Vorschein gebracht. Aber es waren Depressionen und ein tiefsitzendes Trauma, die einmal fast zum Selbstmord geführt hätten: „Ich habe mich so unglaublich schlecht gefühlt, nachdem ich zwei Scheiben Brot gegessen hatte. Aber ich konnte sie nicht erbrechen, da wusste ich wirklich nicht weiter.“


2015 geht Paula freiwillig in eine Klinik, in der ihr wegen ihrer Depressionen geholfen werden soll. „Ich war dort, um herauszufinden, was in mir los war“, sagt sie reflektiert. Ihre Essstörung wurde durch die Depressionen verdrängt und unterstützt und sie findet heraus, dass sie an einer Körperschemastörung leidet. „Diese verschobene Selbstwahrnehmung geht quasi Hand in Hand mit der Magersucht“


Durch meine Recherche weiß ich, dass diese Sucht nicht selten tödlich enden kann und viele der Betroffenen ihr Leben lang mit Magersucht zu kämpfen haben. Deshalb interessiert es mich, ob und wie Paula den Weg aus der Abhängigkeit geschafft hat.


Nach dem Klinikaufenthalt und der Nachricht, dass sie schwanger ist, habe sich alles für sie geändert, sagt Paula: „Ich wollte einfach die Generation durchbrechen.“ Sie möchte für ihre Tochter da sein, nicht ihre Energie aus dem Hungern ziehen und hat sämtliches Kalorienzählen und das Stellen auf die Waage aus ihrem Leben verbannt. Jetzt isst sie intuitiv, hört auf ihren Körper und geht zweimal die Woche joggen, um einen Ausgleich zu ihrem Bürojob zu haben.

Paula hat keine Angst mehr vor Rückfällen. Sie blickt positiv in die Zukunft und geht mit mehr Achtsamkeit durch den Alltag. „Im Leben hier und jetzt zu sein, das ist meine Kraftquelle.“


Es ist nicht leicht der Essstörung zu entkommen. Doch Paulas Beispiel zeigt, dass es gelingen kann.


| von Romy Saupe

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