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"Wenn Blut geflossen ist, hat es so angefühlt, als ob...

die psychische Erkrankung aus meinem Körper fliest“


Kim spricht über die Sucht des Selbstverletzenden Verhaltens (SVV). Die 22-Jährige hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Ursprünglich kommt sie aus Wien, wohnte aber zwischenzeitlich in Deutschland. Sie erzählt von ihrem Umgang mit der Sucht, Therapieversuchen und wie es ihr heute geht.

Ein Interview


Illustration: Leandra Teschner

Kannst du dich an das erste Mal erinnern, als du dich selbst verletzt hast?


Mit 15 oder 16 hat es sich das erste Mal geäußert, dass ich den Gedanken daran hatte. Irgendwann habe ich mich mit Nagelscheren verletzt, da war ich 17. Man hat durch die Medien diese Bilder im Kopf von blutüberlaufenden Badezimmern, aber als ich es gemacht habe, war ich ein bisschen enttäuscht. Klar, es war auch befreiend, aber irgendwie hatte ich mehr erwartet. Nach dem ersten Mal habe ich mir gedacht, dass ich das nie wieder machen möchte. Ich weiß nicht mehr, weshalb es war, vielleicht ein Streit oder typische Verlassensängste. Ich war selbst geschockt, dass ich so weit gegangen bin.



Wie hat sich dein selbstverletzendes Verhalten später ausgewirkt?


Als ich 18 war, ist es eskaliert. Ich habe mich richtig tief geschnitten, Panik bekommen und die Rettung gerufen. Und ich dachte: Ich möchte das doch eigentlich nicht. Als ich von Wien nach Magdeburg gezogen bin, hat sich das noch verschlimmert. Der Gedanke wurde stärker und die Anspannung war sehr hoch. Ich habe mir Rasierklingen bestellt und dann häufig damit angefangen, auch bei niedriger Anspannung, wenn ich es vielleicht hätte aushalten können oder wenn ich Skills dagegen hätte nutzen können. Ich dachte, ich will, möchte und brauche das. Ich habe immer gewusst, das ist jetzt nicht die Lösung für alles und nicht cool. Aber in dem Moment hat es sich einfach gut angefühlt.

Wie fühlt es sich an, wenn du dich selbst verletzt?

Bei mir wurde eine emotionale Persönlichkeitsstörung, Typus Borderline, diagnostiziert.

Wenn Blut geflossen ist, hat es sich so angefühlt, als ob die psychische Erkrankung aus meinem Körper fließt, so befreiend. In dem Moment, in dem ich mich schneide, wenn ich die Klinge ansetze, ist der leichte Schmerz oder das Blut ein Ventil. Dann kann sich die Energie, die sich aufgestaut hat, entladen. Sonst hat es sich durch Boxen gegen die Wand und krasse Wutausbrüche geäußert. Ich habe mir die Hand geprellt und die Knöchel blutig geschlagen. Es ist, als wenn man auf einer Achterbahn fährt und dieses Adrenalin hat. Ich kann nicht stillsitzen, ich brülle rum, ich mach was mit meinen Händen, ich muss das rauslassen. Beim Stillsitzen würde es mich in 1000 Stücke zerteilen.

Es ist Energie, die raus will, nur nicht im positiven, sondern in diesem negativen Sinne.


Wie reagieren Außenstehende auf dein SVV?

Früher habe ich immer als Ausrede benutzt, dass mein Kater mich gekratzt hat. Vor meinen Eltern habe ich es auch immer versucht zu verbergen. Als ich meine Diagnose bekommen habe, sagte meine Mum, dass ihr früher bewusst war, dass ich mich verletze. Sie hatte meinen Dad mal darauf angesprochen, sich informiert, aber hat nie gewusst, wie sie darüber reden soll. Jetzt wissen sie es und sind für mich da. Freunde merken schon, da ist etwas passiert, aber sie fragen jetzt nicht genau nach. Ich wurde noch nie verstoßen oder als verrückt abgestempelt. Ab und zu fällt mir auf, dass Leute auf meinen Arm gucken. Es gibt viele Klischees auch in Bezug auf Borderline. Ich würde die Narben jetzt auch nicht mehr verstecken. Wenn man sie sieht, dann ist das so.


Wie stehst du zu diesen Narben? Manchmal, wenn ich zum Beispiel Hochzeiten im Fernsehen sehe, dann denke ich: Was ist, wenn ich irgendwann heirate und ein Kleid anhabe? Stolz darauf würde ich nicht sagen. Warum sollte ich stolz darauf sein, dass ich etwas Dysfunktionales gemacht habe? Es gibt aber auch den Gedanken, dass sie zeigen, dass ich durchgehalten habe.

Was hat SVV mit dem Gefühl zum eigenen Körper zu tun?

Also mit meinem Körper komme ich, bis auf die normalen Probleme, gut klar. Ich habe mich nie verletzt, weil ich meinen Körper nicht mag, sondern immer wegen des Drucks oder dieser Emotionen.


Ist SVV eine Sucht? Allgemein nicht immer, aber es kann zu einer werden. Ich gehe bei mir von einer Sucht aus. Besonders, weil ich immer wieder Szenarien vor meinem Auge hatte, auch wenn ich mich nicht selbst verletzen wollte, wie ich es in dem Moment hätte tun können. Meine Therapeutin meinte, dass ich suchttypische Anzeichen zeige.

Wie hat sich die Sucht ausgewirkt in der schlimmen Zeit? Ich habe gemerkt, dass ich es immer tiefer, länger und häufiger wollte, wenn ich diesen Druck hatte. Ich wollte mehr Blut sehen. Es gab auch Momente, wo ich anderen Leuten begegnet bin, die mehr Narben haben. Da kam mir auch der Gedanke, ob sie mehr Leid haben. Das war eine Art Konkurrenzdenken. Man muss lernen, es nicht zu vergleichen. Jeder nimmt Probleme und Tiefschläge anders wahr.


Warst du wegen des SVV in Therapie? Vor meinem Umzug nach Deutschland war ich in einer psychoanalytischen Therapie, nachdem ich mich so schlimm verletzt hatte, dass ich die Rettung gerufen habe. Heute habe ich das Gefühl, die psychoanalytische Therapie hat mir weniger geholfen als eine Verhaltenstherapie. Die habe ich jetzt. Warst du mal in einer Klinik?


Als die Corona-Zeit angefangen hat, habe ich gemerkt, dass ich es zuhause nicht mehr aushalten kann. Aufgrund von Bürokratie konnte ich aber nicht in eine Klinik. In Österreich läuft alles anders als in Deutschland. Es hat sich keine Stelle richtig ausgekannt, alle waren total überfordert und es war so frustrierend. Einen normalen Therapieplatz habe ich auch nicht bekommen. An einem Wochenende wollte ich eine Überdosis von meinen Antidepressiva nehmen und mich umbringen. Ich habe die Rettung gerufen. Die haben mich in die Geschlossene gebracht. Von dort bin ich nach kurzer Zeit wieder nach Hause. Einen Monat später war ich auf einer offenen Station, auch dort konnte ich wegen Versicherungsproblemen nicht bleiben, obwohl ich es wollte. Als ich zuhause war, war es als würde ich einen Brunnen raufklettern und jemand würde mir die Hand reichen und auf einmal, wenn ich nach der Hand greife, würde mich jemand wieder runterziehen. Danach war ich in der schlimmsten Phase, in der ich auch Selbstmordgedanken hatte. Ich wollte entweder zurück nach Wien oder eine Therapie und beides ging nicht.


Du sprichst von Suizidgedanken. Gehen diese und SVV für dich automatisch zusammen? Ich persönlich habe mich nie verletzt, weil ich mich umbringen wollte, sondern weil ich diesen emotionalen Druck, diese Anspannung, die Gefühle, die ich hatte, nicht aushalten konnte. Suizid bedeutet für mich, dass es der letzte Ausweg ist und SVV ist ja nicht der letzte Ausweg. Ich kenne aber Leute, bei denen es so ist.

Wie erfolgt deine Behandlung? Ich bin im Frühling 2021 wieder nach Wien gezogen. Seitdem habe ich eine Verhaltenstherapie. Man lernt erstmal, auf welchem Anspannungslevel man ist und sich einzuschätzen. Ab einer gewissen Anspannung gibt es Skills, die unterschiedlich helfen. Beispielsweise habe ich Öl, an dem ich rieche oder irgendwelche Stresswürfel. Manchmal hilft es auch, wenn ich Kissen durch die Gegend werfe oder kalt duschen gehe. Das erarbeitet man sich. Und du lernst viel mit Gefühlen umzugehen, zu wissen, wie es dir jetzt im Moment geht, damit es nicht mehr zu SVV kommt. Hast du dich seit dem Therapiebeginn nochmal selbstverletzt?


Es gab nur einen Rückfall vor Kurzem, da kam dieses Suchtverhalten wieder total rauf. In dem Moment, wo ich mich verletzt habe, hat es sich zwar wieder gut angefühlt. Aber da war auch irgendwie der Gedanke, als hätte ich alle Fortschritte weggeschmissen. Trotzdem würde ich sagen, dass ich clean bin. Ich möchte es nicht mehr. Aber ich kann jetzt auch nicht sagen, dass ich es nie wieder tun werde, weil ich nicht weiß, was mich in Zukunft erwarten wird. Gab es einen ausschlaggebenden Punkt aufzuhören?


Ich wollte immer aufhören. Aber die irrationale Stimme in mir hat mich immer weitergetrieben. Ich war einfach zu schwach, um aufzuhören, oder ich habe nicht genau gewusst, wie. Ich bin in Therapie gegangen, um generell mit meinen Gefühlen klarzukommen, um mit Mitmenschen klarzukommen, eine Tagesstruktur zu haben. Ich will ein besseres, gesünderes Leben. Ich merke, wenn ich mich selbst verletze und Leute in meiner Umgebung das mitbekommen, auch wenn sie für mich da sind, tut es ihnen weh. Ich möchte nicht, dass sie das ertragen müssen.


Hast du das Gefühl, dass die Gesellschaft SVV als Sucht und als Krankheit erkennt? Als Sucht glaube ich nicht. Es ist oft so, dass es heißt, dass man nur Aufmerksamkeit möchte. Wer sich selbst verletzt, hat nicht gleich Borderline. Und wer Borderline hat, verletzt sich nicht immer selber. SVV ist ein Symptom. Die psychischen Erkrankung Borderline ist sehr negativ behaftet. Es heißt sowas wie: Die ist verrückt, hat voll die Verlassensängste, hängt sich an jeden Typen und macht alles nur für Aufmerksamkeit, sowas halt. Auf Social Media wird auf Psychische Erkrankungen aufmerksam gemacht, was sehr gut ist. Betroffene können sich Rat bei anderen Betroffenen holen oder Aufklärung schaffen. Aber es gibt auch Plattformen, auf denen ich extra nach Bildern suchen konnte, denn es werden nicht alle mit Narben oder Blut zensiert. Ich wollte sie sehen, um mich selbst zu triggern.

Du hast erzählt, du bist in einer Selbsthilfegruppe. Wie läuft es dort ab? Mein Dad hat mir sehr geholfen und hat auch eine Selbsthilfegruppe für Borderliner rausgesucht. Wegen Corona war es online, teilweise auch im Reallife. Das mir besser gefallen hat, weil die Interaktion viel besser war. Wir haben eine Whatsapp-Gruppe, da kann man bei Tiefs oder Ratschlägen immer nachfragen. Man ist unter Gleichgesinnten, weil jeder Borderline hat, aber wir sind alle individuell, weil es so vielfältig sein kann.

Wie fühlst du dich, wenn du darüber sprichst? Bei mir gibt es eine große Abgrenzung zwischen Eltern, Freunden und Bekannten. Freunden und meiner Therapeutin kann ich alles erzählen. Ich fühle mich jetzt zum Beispiel nicht selbst getriggert, wenn ich darüber gerade mit dir rede. Oder in der Selbsthilfegruppe. Das kann aber vorkommen, wenn es mir schlechter geht. Ich habe einen Blog, wo ich schreibe, was mir durch den Kopf geht. Den kennen meine Freunde und meine Eltern auch, da können sie sehr viel miterleben. Wenn ich aber persönlich mit meinen Eltern rede, dann ist es sehr schwer, weil der Gedanke da ist, dass da diese Schuld und diese Vorwürfe sind, dass ich eine schlechte Tochter wäre. Deshalb schreibe ich lieber auf dem Blog.



| von Antonia Spieler



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