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Ketamin: Das Sedativ, die Droge und der Hoffnungsträger

Einst verletzten Soldaten im Vietnamkrieg injiziert, heute als Pulver in der Clubszene bekannt: Ketamin. Obwohl die Substanz gleich geblieben ist, hat ihre Anwendung einen großen Wandel hinter sich. Anfangs, als die US-Firma Parke-Davis 1962 das erste Ketamin herstellte, fand es Verwendung als Anästhetikum. Wegen der Nebenwirkungen wird der Arzneistoff heutzutage nur noch selten an menschliche Patient:innen gegeben. Doch ab den 70er Jahren wurde das Mittel dank seiner psychedelischen Effekte auf dem Schwarzmarkt beliebter. Auch medizinisch verspricht Ketamin weiteres Potenzial: in Europa und den USA wird es zur Behandlung von psychischen Krankheiten eingesetzt.


Foto: Isabelle Wiermann
Auf der Suche nach Entspannung und guter Laune: Als kristallines weißes Pulver wird Ketamin auf Partys zweckentfremdet.
 

Forscher:innen sind noch unsicher, woher die schnell einsetzende antidepressive Wirkung des Anästhetikums kommt. Diese wird seit 2010 in Studien untersucht, vor allem in den USA. 2019 wurde dort das Ketamin-Nasenspray Spravato zugelassen, welches auch in Europa verwendet wird. Inzwischen darf das Spray nicht nur bei Patient:innen mit behandlungsresistenter Depression angewendet werden, sondern auch bei mittelgradigen bis schweren depressiven Phasen. Injektionen mit Ketamin werden in spezialisierten Kliniken ebenfalls für psychotherapeutische Zwecke eingesetzt. Dabei werden ebenso Personen mit posttraumatischen Belastungsstörungen und Angststörungen behandelt.

Ketamin könnte zu einem Hoffnungsträger werden, sowohl für Ärzt:innen als auch Betroffene. Neben der Möglichkeit, psychische Leiden zu lindern, wird die Substanz zudem als Behandlungsmittel für die bisher unheilbare Krankheit Tollwut getestet.


Trotzdem darf das Anästhetikum nicht unterschätzt werden. Der durch Ketamin veränderte Bewusstseinszustand kann unter anderem zu Halluzinationen und Nahtoderfahrungen führen. Die Bewegungsfreiheit und das Schmerzempfinden sind eingeschränkt, was das Unfallrisiko erhöht. Selbst eine „Line” des auf dem Schwarzmarkt handelsüblichen weißen Pulvers kann zu einer Überdosis führen. Dabei kommt es im schlimmsten Fall zum Atemstillstand - und ein direktes Antidot für Ketamin gibt es nicht.


„Eine Nase kann man ja mal ausprobieren”


Die 23-jährige Studentin Marie kannte den Arzneistoff erst als Pferdebetäubungsmittel. Beim Feiern beobachtete sie dann, wie Partygänger:innen im Ketamin-Rausch nicht mehr laufen oder reden konnten, was sie lange abschreckte. Doch eine gewisse Neugier gab es immer. Sie hat schon ein weites Spektrum an Partydrogen ausprobiert: Pilze, Cannabis, MDMA, Amphetamine. In ihrem Freundeskreis sind Drogen normal, irgendjemand hat immer was dabei.

„Vorher hatte ich beim Gedanken an Drogen so ein Bild von Christiane F.* im Kopf. Meine Freunde haben sich dann vorsichtig rangetastet, und ich hab irgendwann mitgemacht”, berichtet die 23-Jährige.

Dieses Jahr hat sie im Dänemarkurlaub ihre erste Erfahrung mit Ketamin gemacht. Mit 15 Freund:innen verbrachte sie ihren Sommer in einem Ferienhaus. Einige davon hatten Drogen in Päckchen asiatischer Nudelsuppen versteckt, um sie im Auto über die Grenze zu schmuggeln. Die Amphetamine MDMA, Speed und das besagte Anästhetikum in Pulverform. Ihre Begleiter:innen meinten, dass ein bis zwei Lines entspannend wirken. Trotz ihrer Skepsis fühlte Marie sich mutig und wollte den Urlaub zu einer besonderen Erfahrung machen.

„Eine Nase kann man ja mal ausprobieren”, dachte sie sich. Mit ihrer Freundesgruppe fühlte sie sich sicher, nicht alle hatten etwas zu sich genommen. Dementsprechend würden einige Freund:innen sich im Notfall noch um sie kümmern können.

Nach der ersten „Nase” stieg leichte Euphorie auf, sie merkte, etwas veränderte sich. Die Gruppe plauderte und spielte Karten. Die 23-Jährige entschied sich für eine zweite Line. Sie fühlte sich wie auf Wolken. Doch plötzlich kippte das Gefühl: Marie dachte sich, sie müsse jetzt allein sein. Enttäuschung machte sich breit: „Ich dachte, Ketamin heilt Anflüge von Traurigkeit”, so die 23-Jährige. Sie fühlte sich nur noch deprimiert, machte einen langen Spaziergang und ging früh schlafen.

„Mega gut geht’s einem nie am nächsten Tag”, erklärt Marie in Bezug auf Drogentrips. Trotzdem versuchte sie nach der Erfahrung zu reflektieren, warum ihre Stimmung so plötzlich gekippt war: Psychisch ging es ihr zur Zeit des Urlaubs nicht so gut. Sie war gestresst und kannte nicht alle Mitreisenden. Sie würde nochmal Ketamin probieren - „aber in einem besseren Setting”, erklärt sie.


„Mein Ich ist in 1000 Teile zerfallen"


Auch die 24-jährige Studentin Lea hatte einst die Neugier gepackt. Auf Festivals sah sie manchmal, wie Menschen im Ketamin-Rausch wild und euphorisch tanzten. Ihre erste Einnahme passierte spontan, verlief jedoch verhängnisvoller als bei Marie: Lea hat überdosiert.

Vor rund sechs Jahren nahm sie in einem Club Ecstasy ein. Für Lea sind Suchtmittel im Freundeskreis ebenfalls normal. Auf der kleinen Afterparty hatten ihre fünf Freund:innen bereits Ketamin probiert. Spontan entschied sie sich, mitzumachen.

„Mir ging es gut, ich hatte erst wenig gespürt. Wir haben alle miteinander gekuschelt und es erleichterte mein Runterkommen vom Ecstasy”, erinnert sich Lea.

Nach einer Viertelstunde zog sie noch eine Line. Und noch eine. Sie wusste nicht, wie man Ketamin dosiert und wie lange die Wirkung zum Einsetzen braucht. Ihre Freund:innen hatten nicht realisiert, dass sie das Pulver noch nie zuvor eingenommen hatte.

„Ich kann mich nur noch teilweise erinnern”, gibt Lea zu. Ihr wurde übel, alles fing sich an zu drehen. “Bei der kleinsten Kopfbewegung brach meine Welt zusammen.”

Oben und unten wurden zu abstrakten Konzepten in ihrem Kopf. Im Badezimmer sah sie ihr Spiegelbild, aber hatte keinen Bezug dazu. Sie musste sich lange übergeben und hörte nicht auf zu röcheln. Sie dachte, sie erstickt, dachte, sie stirbt.

„Mein Ich ist in 1000 Teile zerfallen. Es war wie eine Explosion. Das war das schlimmste Drogenerlebnis, was ich je hatte”, erzählt Lea. Irgendwann schaffte sie es, die Toilette zu verlassen und einzuschlafen.

Trotz ihres Horrortrips würde Lea, wie auch Marie, nochmal Ketamin nehmen. „Ich würde aber viel mehr auf mein Umfeld achten, meine Gruppe und mein eigenes Befinden”, sagt sie. “Außerdem würde ich natürlich mit weniger anfangen. Man sollte sich fragen, was sein Ziel bei der Einnahme ist und was man sich vom Ketamin wünscht.”


Eine Substanz mit Zukunft


Eine Einnahme von Ketamin als Rauschmittel ist natürlich nicht vergleichbar mit der Verabreichung aus medizinischen Gründen. Therapeut:innen arbeiten mit genauen Dosierungen, überwachen die Vitalwerte und sorgen für eine reizarme Umgebung. Selbst die Anwendung von Ketamin-Nasenspray muss in Deutschland unter ärztlicher Beobachtung erfolgen. Produkte vom Schwarzmarkt werden oft gestreckt, was nicht nur die Wirkung verzerrt, sondern auch für Schadstoffe im Pulver sorgen kann.

Ketamin ist also an sich keine Partydroge. Das Anästhetikum ist eine Substanz auf der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Und die Behandlungsmöglichkeiten für psychische Krankheiten durch Ketamin sind noch am Anfang. Es bleibt abzusehen, welches Potenzial der Stoff für die Zukunft birgt.


*Christiane Felscherinow hat mit ihrem Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo” in den 80er Jahren internationale Bekanntheit erreicht. In dem Buch berichtet sie von ihrem Abstieg in die Drogensucht in ihrer Jugend.



| von Isabelle Wiermann

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