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Die Sucht an Nägeln zu kauen

Aktualisiert: 22. Feb. 2022


"Mit 19 habe ich zum ersten Mal meine Fingernägel geschnitten"


Seit Luise denken kann, knabbert sie an ihren Fingernägeln. Ist sie nervös, gestresst oder gelangweilt, kaut sie an ihren Nägeln bis sie bluten. Vor vier Jahren erkennt Luise, dass sie, egal was sie versucht, nicht damit aufhören kann. Es ist fast wie eine Sucht. Sie hat eine Zwangsstörung, oder genauer gesagt, eine Zwangspektrumstörung.


Illustration: Leandra Teschner

Wir alle kennen solche Situationen: Wenn wir aus dem Haus gehen, überprüfen wir, ob die Tür wirklich abgeschlossen und das Licht ausgeschaltet ist. Steht eine stressige Aufgabe an, denken wir die ganze Zeit darüber nach. Und wenn uns beim Essen ein Löffel auf den Boden fällt, wollen wir damit nicht weiteressen. Das ist doch ganz normal, oder? Leider ist das nicht immer so. Werden diese Rituale und Gedanken intensiver, treten immer häufiger auf oder sind gar nicht mehr zu vermeiden, kann es sich um eine Zwangsstörung handeln.


Genau wie bei Luise: Seit ihrer frühen Kindheit kaut sie an ihren Fingernägeln. Egal, was sie und ihre Eltern versuchen, sie kann damit nicht aufhören. Ihre Nägel knabbert sie immer weiter runter. Bald sind keine Rundungen mehr zu erkennen. Dann kommt auch die Haut unterm Nagel zum Vorschein. Irgendwann beißt Luise ihre Nägel so wund, dass sie regelmäßig bluten. Bei jeder Handbewegung schmerzen ihre Finger. Will sie Geld vom Tisch aufheben, kann sie es nicht einfach mit ihren Fingern greifen. Sie schiebt die Münzen zur Tischkante und dann auf ihre Hand. Das Nägelkauen schränkt Luises Alltag ein, das weiß sie. Dennoch kann sie es nicht sein lassen.


"Nur noch die eine Ecke"


Laut dem diagnostischen und statistischen Leitfaden psychiatrischer Störungen, sind Zwangsstörungen sich „wiederholende Gedanken, Bilder und Impulse, die auf die Patient:innen eindringen, denen es unmöglich ist, diese aufzuhalten.“ Betroffene haben also einen inneren Drang bestimmte Gedanken oder Handlungen immer wieder durchzuführen. Obwohl ihnen bewusst ist, dass dieses Verhalten sinnlos ist, können sie sich nicht dagegen wehren. Wollen sie dem Zwang widerstehen, entstehen innere Unruhe und Angst. Die Ausführung ihres Zwangs lindert diese Gefühle kurzzeitig.


So ist es auch bei Luise. Bei Stress, Aufregung und Langeweile kaut sie an ihren Fingernägeln. „Ich beginne dann mit meinen Fingern rumzuspielen. Dabei finde ich eine Ecke an einem Nagel. Ab da kann ich es nicht mehr unterdrücken.“ Je mehr sie versucht, nicht daran zu knabbern, desto stärker denkt sie: „Nur noch die eine Ecke“. Und schon kaut sie wieder an ihren Nägeln.


„Das tut auch weh. Gerade, wenn man das runter kaut. Da ist ja blankes Fleisch drunter. Aber man gewöhnt sich dran.“ Da sie alles, was man normalerweise mit einem Fingernagel macht, mit ihren freigelegten Fingerkuppen machen muss, bildet sich auf Luises Fingern schnell eine Hornhaut. So schmerzt es weniger. Außerdem trägt sie oft Pflaster um die Finger. „Das ist wie bei einer Blase am Fuß. Darunter ist diese rote zweite Hautschicht. Die ist wie die Haut unterm Fingernagel. Klebt man da kein Pflaster drauf, tut jede Berührung weh.“

Zwänge - unterschiedlich und doch gleich


Zwangspektrumstörungen umfassen eine Vielzahl an Erkrankungen, die Zwangsstörungen ähnlich sind. Klassische Zwangsstörungen sind sowohl Zwangsgedanken wie sich wiederholende Zweifel, Befürchtungen oder Zählzwänge, als auch Zwangshandlungen wie Wasch-, Kontroll- oder Ordnungszwänge. Exzessives Nägelkauen gehört zu den Impulskontrollstörungen, die unter anderem auch Haareausreißen, Kleptomanie und Spielsucht, einschließen.


Beim Nägelkauen, auch Onychophagie genannt, muss es sich nicht unbedingt um einen Zwang handeln. Wiederholen Betroffene das Verhalten immer wieder und können die Impulse ihre Nägel abzukauen, nicht unterdrücken, kann es eine Zwangspektrumstörung sein. Onychophagie beginnt meist in der Kindheit oder Jugend. Erwachsene sind weniger betroffen. Die meisten hören irgendwann einfach auf.


Bei Luise verschlimmert sich das Nägelkauen jedoch, je älter sie wird. Als Kind ignoriert sie die Aufforderungen ihrer Eltern, damit aufzuhören. Sie versuchen Luise sogar mit Belohnungen für das Nägelschneiden zu locken. Ohne Erfolg: Luises Nägel sind nie lang genug, um sie zu schneiden. „Das war mir damals relativ rille. Da war es auch noch nicht so schlimm.“ Doch mit der Zeit merkt sie, dass dieses Verhalten nicht normal ist. Als ihr Freund:innen erzählen, auch manchmal an den Nägeln zu kauen, fühlt sie sich besser. Dennoch fällt ihr auf, dass es bei ihr selbst exzessiver ist.


Damals denkt Luise noch, dass sie von alleine mit dem Kauen aufhören kann. In ihrer Familie hat das schließlich auch funktioniert. Sowohl ihr Vater als auch ihre Brüder knabbern eine Zeit lang an ihren Fingernägeln. Luises Vater hört eines Tages einfach damit auf. Den Grund dafür kennt er selbst nicht. Ihre Brüder legen das Nägelkauen ab, als beide feste Zahnspangen bekommen.


Bei Luise scheint die Veranlagung zum Nägelkauen also in der Familie zu liegen. Weshalb sie ihren Zwang entwickelt hat, kann sie nicht genau sagen. Sie vermutet aber, dieses Verhalten als Kompensation für Stress erlernt zu haben. Auch wissenschaftlich sind die Ursachen einer Zwangserkrankung nicht eindeutig geklärt. Dennoch geht man von einem Zusammenspiel aus genetischen und psychologischen Faktoren aus.


Mit Hypnose gegen Zwänge?


Dass Nägelkauen bei ihr nicht nur eine Gewohnheit, sondern ein Zwang ist, bemerkt Luise mit 16 Jahren. Etwa zwei Jahre später entscheidet sie sich, eine Hypnose-Therapie auszuprobieren. „Selbst wenn es nicht klappt, habe ich wenigstens was dagegen getan.“ Zwar ist die Therapie nicht gerade billig, doch Luise ist optimistisch.


Hypnotherapien sind seit 2006 als wirksame Methode wissenschaftlich anerkannt. Oft werden sie zur Raucherentwöhnung oder Bewältigung von Traumata und Ängsten eingesetzt. Dabei tritt das innere Erleben in den Vordergrund, während die Wahrnehmung der Außenwelt in den Hintergrund driftet. In diesem Trancezustand ist es möglich, Stärken der Patient:innen zu aktivieren, Stimmungen zu beeinflussen und Bewältigungsstrategien zu trainieren. Anders als bei einer Show-Hypnose, bekommen die Patient:innen hierbei alles mit, können die Hypnose jederzeit verlassen und erinnern sich nach der Sitzung an das Geschehene. Da sich in Trance auch Erfahrungen aus der Vergangenheit öffnen können, sollte man seine:n Therapeut:in sorgsam aussuchen. Denn wird eine belastende Erinnerung reaktiviert, kann es zur Retraumatisierung kommen.


"Von jetzt an wirst du immer weniger an deine Fingernägel denken"


Luise fasst zu ihrer Therapeutin schnell Vertrauen. Ihre Therapie besteht aus drei Sitzungen. Das erste Treffen fungiert als Kennenlernen. Die Therapeutin will überprüfen, ob Luise für eine Hypnose geeignet ist und sich die Bilder vorstellen kann, die ihr vorgegeben werden. Sie fragt nach Luises Vergangenheit und ihren Ängsten, damit nichts Belastendes angesprochen wird. Zum Schluss geht es kurz in die Hypnose, um verschiedene Techniken zu testen. „Von jetzt an wirst du immer weniger an deine Fingernägel denken.“, sagt die Therapeutin am Ende der Hypnose.


Noch in derselben Woche findet Luises zweite Sitzung statt. Diesmal geht es direkt in die Hypnose. Sie sitzt nach hinten gelehnt auf einem Stuhl und soll auf die Spitze eines Löffels schielen. Dabei lauscht sie der ruhigen Stimme der Therapeutin. Sie wird immer müder und muss irgendwann die Augen schließen. Sie ist in Trance und kann jetzt die Szenarien, die ihr vorgegeben werden, in ihrem Unterbewusstsein abspielen. In ihrer Vorstellung ist Luise nun in einer Klinik. Hier soll sie ihre Hände in Tinkturen halten, in denen Pilze, Würmer, Viren und Bakterien sind. Als Nächstes soll sie die Pampe von ihren Fingern lecken. Luise schmeckt den ekelhaften Geschmack in ihrem Mund. Die Therapeutin geht noch ein paar Szenen mit ihr durch und holt sie dann wieder aus der Hypnose.


Rund fünf Wochen später geht Luise zur dritten Sitzung. Ihre Fingernägel sind jetzt schon wieder länger. Es ist ihre Abschlusssitzung. Die Hypnotherapie hat bei ihr gewirkt. „Ich habe sehr schnell auf die Hypnose reagiert. Besonders auf den Ekel“, sagt sie. Den Pseudogeschmack der ekelhaften Krankenhaus-Pampe schmeckt Luise auch nach der Hypnose, wenn sie ihre Finger in den Mund nimmt. Ihr Unterbewusstsein sagt ihr: „Das ist ekelig.“


Wenige Wochen später erlebt Luise einen großen Erfolg: Ihre Fingernägel wachsen und werden sogar ziemlich schnell lang. „Mit 19 habe ich zum ersten Mal meine Fingernägel geschnitten. Ich wusste gar nicht, wie das geht und musste meine Mutter fragen.“ Später bemerkt sie, was man mit Fingernägeln alles machen kann: Geldmünzen aufheben, die Folie vom Nutella-Glas friemeln oder ihr Taschenmesser öffnen. Alle diese Aufgaben musste sie vorher anders bewerkstelligen.


Heute, etwa ein Jahr nach der Therapie, kaut Luise nur noch bei Stress an ihren Nägeln. Doch jetzt kann sie sich zurückhalten, nicht weiter zu kauen. Wenn sie Langeweile hat oder einen aufregenden Film schaut, knabbert sie nicht mehr an ihren Fingern - Für Luise ein riesiger Erfolg.


| von Laura Lang

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